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Thema der Woche | 24. Januar 2019

Weibliche Querköpfe

Stadtspaziergang auf den Spuren bedeutender Marburgerinnen
Foto: Georg Kronenberg

Marburg gilt als hervorragendes Milieu für weibliche Querköpfe: Vom Mittel­alter bis heute hat die Stadt erstaunlich viele bemerkenswerte Frauen her­vor­gebracht. Wer die weibliche Seite Marburgs historisch und aktuell entdecken möchte, kann einen Stadtspaziergang auf ihren Spuren unternehmen. Das Kulturamt der Stadt hat dazu einen zwölfseitigen Flyer mit dem Titel "Mar­bur­ger­innen" herausgebracht.

Der Themenweg teilt sich in zwei verschiedene Rundgänge durch die Altstadt. Wer sich den Marburgerinnen historisch nähert, sollte mit der wohl be­rühm­tes­ten Frau der Stadtgeschichte beginnen: Ohne die Heilige Elisabeth (1207-1231) - so schätzen Lokalhistoriker - hätte Marburg wahrscheinlich keine größere Bedeutung als Städtchen wie Biedenkopf oder Amöneburg. Da, wo heute die Elisabethkirche steht, gründete die Königstochter ein Hospital, in dem sie nach den Regeln des Franz von Assisi Alte und Kranke pflegte. Großzügig verteilte sie gleich zu Beginn ihrer Zeit in Marburg ein Viertel ihres Vermögens an die Bedürftigen und lebte selbst in Armut. Mit dem aufopferungsvollen Dienst für die Kranken ruinierte sie ihre Gesundheit derart, dass sie schon im Alter von 24 Jahren starb. Nur vier Jahre später wurde sie heilig gesprochen. Über ihrem Grab wurde die erste gotische Hallenkirche Deutschlands errichtet. In den folgenden drei Jahrhunderten wurde die Elisabethkirche zu einem großen Wallfahrtsort.

Ihrer ebenso unerschrockenen, aber machtbewussteren Tochter Sophie von Brabant(1224-1275) ist der Ausbau Marburgs zur Residenzstadt zu verdanken. Mit Mut und Tatkraft focht sie einen hartnäckigen Kampf um das thüringische Erbe aus. Symbolisch ist dies an der Skulptur am Marburger Rathaus zu sehen, wo Sophie ihren erst dreijährigen Sohn Heinrich in die Höhe reckt. Für das Kleinkind forderte sie das Erbe ein. Es dauerte 16 Jahre, bis ihr schließlich die hessischen Territorien Thüringens, acht Burgen sowie Städte wie Witzenhausen und Eschwege zugesprochen wurden. Das Schloss mit der 1288 geweihten Kapelle und dem prächtigen Fürstensaal ist der bauliche Ausdruck des von Sophie und ihrem Sohn Heinrich errungenen Erfolges.

Die reiche Landgräfin Anna von Katzenelnbogen (1443-1494) ließ an der Westseite des Schlosses den sogenannten Frauenbau anfügen, in dem heute wechselnde Ausstellungen zu sehen sind. 1493 folgte der Wilhelmsbau an der Ostseite des Schlosses, der heute das Museum für Kulturgeschichte beherbergt. Über dem Eingang ist ein Relief zu sehen, das Mutter und Sohn Wilhelm III. selbstbewusst ihr Land überblickend aus dem Fenster schauen lässt.

Eine fast unbekannte "Gerechte unter den Völkern" lässt sich beim Weg durch den Schlosspark entdecken: Marie Luise Hensel (1894-1942) gehört zu den wenigen Deutschen, die mit einem Baum in der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem geehrt wurden. Sie hat in der roséfarbenen Villa gewohnt, die heute zum Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung gehört. Es handelt es sich um das Haus ihrer Schwiegereltern, in das sie nach dem frühen Tod ihres jüdischen Ehemannes Albert Hensel 1933 zurückkehrte. Die NS-Kritikerin versuchte 1942, den jüdischen Rechtsanwalt Hermann Reis mit Ehefrau Selma und Tochter Berta vor der Deportation in die sichere Schweiz zu bringen. Doch als sie mit ihrer Freundin Käthe Jung Fluchtmöglichkeiten an der Grenze auskundschaftete, wurden die Frauen von einer Gastwirtin denunziert und von der Gestapo verhaftet. Aus Angst, Geheimnisse zu verraten, nahm Hensel sich drei Tage später das Leben. Die Familie Reis wurde kurz darauf nach Theresienstadt deportiert und ermordet.

Rechtzeitig emigriert war die jüdische Philosophin Hannah Arendt (1906-1975), die als 18-Jährige in die Lutherstraße 4 in Marburg zog. Sie studierte Theologie bei Rudolf Bultmann und Philosophie bei Martin Heidegger, mit dem sie eine geheime Liebesbeziehung einging. Heimlich besuchte der 17 Jahre ältere, verheiratete Professor seine Geliebte in ihrer kleinen Mansarde. Doch Heidegger, der später wegen seiner NS-Nähe umstritten war, sorgte sich um seinen Ruf. Hannah Arendt wechselte nach Freiburg. Berühmt wurde sie durch ihre Totalitarismustheorie und ihre Berichterstattung über den Prozess gegen NS-Verbrecher Adolf Eichmann. Ihren früheren Professor Heidegger nannte sie später einen der größten Lügner und einen "potentiellen Mörder".

Natürlich passiert der Themenweg auch den Forsthof, einst das Zentrum der Romantikerinnen Marburgs. Hier trafen sich die Dichterin Bettina Brentano (1785-1859), ihr späterer Ehemann Achim von Arnim, Sophie Mereau, Karoline von Günderode und die Brüder Grimm.

Der zweite Rundgang beginnt in der Alten Universität, wo vor mehr als 100 Jahren die ersten 27 Studentinnen auftauchten. Allerdings waren sie miss­trauisch beäugte Exotinnen. "Bald werden die Studentinnen die Hörsäle überfluten" und "schließlich auch das Wahlrecht verlangen", kritisierte der damalige Rektor. Die 1923 habilitierte Germanistin Luise Berthold (1891-1983) musste noch bis 1952 warten, ehe sie Professorin wurde. Dabei gehörte sie als Mitglied der NS-kritischen Bekennenden Kirche nach 1945 zum "Team der unbelasteten Dozenten". Ihr folgten Frauen wie die nach Großbritannien emigrierte Reformpädagogin Elisabeth Blochmann (1892-1972), die Volks­kundlerin Ingeborg Weber-Kellermann (1918-1993), die mehr als 40 Filme für das Fernsehen erarbeitete, und die später weltbekannte Islamwissenschaftlerin Annemarie Schimmel (1922-2003). Zu den berühmten Studentinnen Marburgs zählen die spätere Terroristin Ulrike Meinhof und die Sozialdemokratin Elisabeth Selbert, die als Mutter des Grundgesetzes gilt. Aus dem Rahmen fällt die spätere Schriftstellerin Christine Brückner. Als Leiterin der Marburger Mensa organisierte sie im Hungerjahr 1946/47 die Verpflegung der Studierenden.

Mit 55 Prozent sind die Frauen unter den Studierenden der Philipps-Uni­ver­si­tät heute in der Mehrzahl. Nachholbedarf gibt es noch bei den Professorinnen (26 Prozent). Allerdings steht mit Uni-Präsidentin Katharina Krause seit 2009 erstmals eine Frau an der Spitze der Marburger Universität.

Auch die Marburger Parteien haben viele bemerkenswerte Frauen hervor­gebracht, die der Stadtspaziergang vorstellt. Der jahrelange politische Druck, die zahlreichen Akademikerinnen undberufstätigen Frauen haben für eine sehr gute Kinderbetreuung in Kitas und Schulen gesorgt. In der Verwaltung Mar­burgs wird inzwischen rund die Hälfte der Fachbereiche und Fachdienste von Frauen geführt.

Eine eigene Station am zu tastenden Bronzemodell des Marburger Markt­platzes widmet der Stadtspaziergang den blinden Frauen, deren Karrieren in der Universitätsstadt starteten. Zu ihnen gehört die zwölffache Goldmedaillen-Gewinnerin bei den Paralympics, Verena Bentele, die in Marburg Abitur machte. Die Spitzensportlerin wurde 2014 die erste Behindertenbeauftragte der Bundes­regierung, die selbst behindert war. 2018 wechselte sie als Präsidentin zum Sozialverband VdK in Deutschland. Von der blinden Tibetologin Sabriye Tenberken waren sogar der ehemalige US-Präsident Bill Clinton und seine Frau Hillary beeindruckt. Die Abenteurerin reiste allein nach Tibet, wo sie eine Blindenschule gründete. Heute lebt sie in Südindien, wo sie das "Kanthari-Institut" - ein Campus für soziale Visionäe aus aller Welt - eröffnete.

Auch zwei Unternehmerinnen stellt der Stadtspaziergang vor: Die Tapeten­designerin Hilde Eitel (1915-2010) prägte das ästhetische Gesicht der Marburger Tapete viele Jahre. Dem Marburger Universitätsmuseum hat sie ihre wertvolle Sammlung moderner Kunst hinterlassen. Sie zeigt europäische Avantgarde-Künstler aus der Zeit nach 1945 - darunter vorwiegend abstrakte Werke von Rupprecht Geiger, Lucio Fontana, Ernst Ludwig Kirchner, Niki de Saint Phalle und Antoni Tàpies.

Ebenfalls aus einem Familienunternehmen stammt die Marburger Kino­be­trei­berin Marion Closmann, der das Cineplex und das Capitol gehören. Als Ende der 90er Jahre die Übernahme durch eine Kinokette drohte, setzten sich die Marburger massiv für die Kinofamilie ein, die als "Garant" für die anspruchsvolle Kinokultur in der Universitätsstadt gilt.

Das Faltblatt mit dem Übersichtsplan ist im Tourismusbüro im Marburger Erwin-Piscator-Haus oder als Download unter www.marburg.de/themenwege erhältlich.

Gesa Coordes

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