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Thema der Woche | 15. März 2018

"Liebe war das nicht"

Waggonhalle inszeniert "Blackbird" – Foto: Hasret Sahin

16 Jahre nach dem Missbrauch, findet die 27-jährige Una ihren 55-jährigen Peiniger Ray. Als sie 12 war, lernte sie ihn in einem Chatroom kennen und brannte mit ihm für mehrere Wochen durch. Das letzte Mal sah sie ihn vor Gericht. Jetzt nun stellt sie ihre große Liebe zur Rede ...

Das von einer wahren Begebenheit inspirierte Theaterstück "Blackbird" von David Harrow erzählt die Geschichte zweier Menschen, deren Beziehung von Liebe, Scham, Vorwürfen und Abneigung geprägt ist. Die Waggonhalle bringt das preisgekrönte Stück am 21. März auf die Bühne. Sophie-Bo Heinkel und Nisse Kreysing präsentieren die Zerrissenheit und Komplexität der beiden Charaktere und bringen mit ihrer Performance – unter der Regie von Matze Schmidt – zum Grübeln. Denn es ist schwieriger als gedacht, Täter und Opfer auseinander zu halten.

Express: Worum geht es in "Blackbird"?

Nisse Kreysing: Das Stück beginnt damit, dass Una Ray durch Zufall in einer Zeitung entdeckt und sich entschließt, ihn aufzusuchen und zu konfrontieren. Als sie ihm gegenüber steht, zerfällt ihre Strategie ziemlich schnell, denn beide erzählen sich ihre Version der Geschichte. Es kommt zum Streit und körperlichen Aggressionen, aber auch gegen Ende fast zum Sex.

Sophie-Bo Heinkel: Es geht um zwei Menschen, die eine Beziehung zueinander haben, für die es in der Gesellschaft keine Worte gibt. Una sucht 16 Jahre nach dem Missbrauch ihre "große Liebe" auf. Am Anfang scheinen die Täter- und Opferrollen klar verteilt zu sein. Diese komplexe Thematik, um sexuellen Missbrauch und Pädophilie, die in der Gesellschaft keinen Platz hat, ist der Rahmen des Stücks. Im Verlauf der Aufführung wird immer deutlicher, wie schwierig es ist, Täter und Opfer auseinander zu halten.

Matze Schmidt: Die Stärke des Stücks ist, dass viele Perspektiven auf der Bühne präsentiert werden, die zum Nachdenken animieren. Una ist dabei der Ausgangspunkt. Sie ergreift die Initiative und weiß aber im selben Moment nicht, zu welchem Ziel sie kommen möchte. Rays Ziel ist es, das Gespräch schnellstmöglich zu beenden. Zudem schwanken die Dialoge zwischen Streitigkeiten und Zuneigung. Diese Zerrissenheit wird sinnbildlich auf die Bühne getragen. Überall liegt Müll, der nicht aufgeräumt wird. Dahinter verbirgt sich sicher eine versteckte Botschaft.

Express: Gibt es eine klare Täter- und Opferrolle?

Nisse Kreysing: Was Una passiert ist, ist unentschuldbar. Die Begriffe sind aber schwer zu verteilen. Schenkt man der Geschichte Glauben, hat sie angefangen mit ihm zu flirten. Einerseits hat sie Täteranteile, andererseits ist das ein 12-jähriges Mädchen gewesen. Das darf man nicht vergessen.

Sophie-Bo Heinkel: Ich sehe eine klare Rollenverteilung. Auch wenn sie mit 12 dachte, dass sie ihn liebt, war das ein sexueller Übergriff. Sie war nicht reif. Er, als 38-jähriger Mann, wusste genau was er tut.

Matze Schmidt: Ich glaube, das beide Opfer sind. Beider Leben wurde durch diese Beziehung aus den Fugen gerissen.

Express: Wie kann man sich Unas und Rays Persönlichkeit vorstellen?

Sophie-Bo Heinkel: Una ist sehr stark und voller Kraft. Im ersten Teil des Stückes ist sie überzeugt, dass Ray sie nie geliebt hat. Sie glaub, dass er ausschließlich Täter ist. Ein Pädophiler, der nur ihre Unschuld wollte. Genau diese Vorstellung macht sie kaputt. Ihr gesamtes Leben ist seit seiner Fest­nahme ein Konstrukt aus Brüchen. Ich bezweifle, dass Una real existieren kann.

Ray möchte dagegen gerne mehr sein, als das was er ist. Einerseits lügt er sich viel in die Tasche, wodurch er sich aus allem rauswinden kann. Andererseits wirkt er auch liebenswürdig. Er ist eine gescheiterte Persönlichkeit.

Nisse Kreysing: Das Interessante ist ja, dass man nicht erfährt, ob es ein Lügen­konstrukt ist. Ray ist davon überzeugt, dass er die 12-jährige Una geliebt hat. Damit rechtfertigt er sein Handeln. Er versucht sich von Pädophilen ab­zu­grenzen. Una ist aber nicht nur stark, sie wird schwach. Genau wie Ray. Sie sind beide zerstörte Persönlichkeiten.

Express: Haben sich Una und Ray tatsächlich geliebt?

Sophie-Bo Heinkel: Ich glaube, dass beide denken, das es Liebe war. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass das möglich sein kann.

Nisse Kreysing: Ich bezweifle, dass eine 12-Jährige tatsächlich einen Mann lieben kann. Liebe setzt ein gewisses Maß Reife voraus, das bei einem Mädchen nicht vorhanden sein kann. Sie gibt offen zu, für ihn geschwärmt zu haben. Aber Liebe war das nicht. Trotzdem sind beide der Auffassung, dass es die wahre Liebe war.

Express: Wie sind Sie mit diesem Stück umgegangen, als Sie die Thematik erfahren haben?

Nisse Kreysing: Als ich das Stück zum ersten Mal gelesen habe, fand ich es auf Anhieb super. Auch wenn mich die Thematik anfangs abgeschreckt hat, war ich begeistert von den Charakteren. Die Figur Ray hat mich fasziniert. Das Theater­stück ist unglaublich gut geschrieben, und die Figuren sind mitreißend.

Trotzdem habe ich zu Beginnmeine Rolle unterschätzt. Viel Recherche und Auf­merk­sam­keit war nötig, um Rays Persönlichkeit zu verstehen und umsetzen zu können.

Sophie-Bo Heinkel: Ich wurde mit diesem Thema oft konfrontiert. Mir ist es wichtig, auf das Thema aufmerksam zu machen. Auf der Bühne wird ein Raum geboten, der es ermöglicht, die Problematik auf eine andere Art und Weise zu vermitteln.

Matze Schmidt: Mein Ziel ist es gutes Theater zu machen, unabhängig vom Thema. Dieses Stück macht das möglich.

Express: Wie war die Stimmung bei den Vorbereitungen innerhalb des Teams?

Sophie-Bo Heinkel: Wir haben oft diskutiert und über die Rollen gesprochen. Es waren kontroverse Unterhaltungen über das Verhalten der Charaktere. Aber die Stimmung im Team war trotzdem immer sehr gut.

Nisse Kreysing: Innerhalb der Produktion haben wir viel gesprochen, aber nicht aus einer belastenden Intention heraus. Es verbindet mehr, wenn man sich ge­mein­sam damit auseinandersetzt.

Express: Zwei 12-jährige Darstellerinnen spielen im Stück die junge Una und Rays Stieftochter. Wie war die Zusammenarbeit?

Nisse Kreysing: Als die beiden Mädchen vor mit saßen, war das ein Schock­moment. Die Dinge, die Ray Una sagt, muss ich einer 12-Jährigen sagen. Das trifft einen wie ein Hammerschlag. In diesem Moment ist mir bewusst ge­wor­den, wie obskur dieses Verhältnis ist. Sie sind sehr gut damit umgegangen. Auch die Eltern fanden es gut, dass ihre Kinder damit konfrontiert werden.

Matze Schmidt: Spätestens bei der ersten Begegnung mit den jungen Schau­spielerinnen wurde klar, wie krankhaft diese Beziehung gewesen sein muss. Wir haben uns viele Gedanken gemacht. Das überraschende war aber, dass beide sehr unbefangen damit umgegangen sind.

Express: Was erwartet die Zuschauer?

Sophie-Bo Heinkel: Es ist ein kontroverses Stück, das die Zuschauer zum Nach­denken und Diskutieren anregen wird.

Nisse Kreysing: Die Stärke des Stücks ist, dass die Rollen nicht offensichtlich sind. Der Zuschauer wird sich dabei ertappen, dass er Sympathie für Ray em­pfindet. Das Besondere dabei ist, dass jeder für sich entscheiden muss, wer Täter und Opfer ist. Dieses Stück wird keinen kalt lassen.

Matze Schmidt: Es handelt sich um ein Theaterstück, bei dem der Verlauf nicht vor zu bestimmten ist. Und auch ein klares Ende bleibt aus. Stattdessen wird der Rezipient mit den Fragen nach Täter, Opfer, Liebe und Schuld brutal alleine gelassen. Das ist die Besonderheit des Stücks.

"Blackbird"
Waggonhalle Produktion No. 30: "Blackbird" von David Harrower
Premiere Mi 21.3. 20.00, Theater im G-Werk
www.waggonhalle.de

Interview: Noran Omran

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