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Thema der Woche | 21. Dezember 2017

Brosamen für die Armen

Kritische Debatte über die Folgen der Tafeln – Foto: Privat

Er gehört zu den schärfsten Kritikern der sogenannten "Tafelbewegung". Stefan Selke, Professor für gesellschaftlichen Wandel, hält die Tafeln für ein neo­feu­da­les Almosen­system, die sowohl von der Politik als auch von der Wirtschaft ins­tru­men­ta­li­siert werden.

Drei Jahre lang hat Stefan Selke Semesterferien und freie Tage dazu benutzt, in Suppenküchen, Sozialkaufhäusern und Tafelabgabestellen in ganz Deutschland zu recherchieren. In Etappen reiste er von Castrop-Rauxel im Westen bis nach Thüringen im Osten, von München nach Ostfriesland. Dabei machte er auch in Marburg Station, wo er auf Vermittlung der ehemaligen Tafel-Geschäftsführerin und Gründerin der Kulturloge, Hilde Rektorschek, zwei Tafelnutzer interviewte. Noch einmal kam er in die Universitätsstadt, um die Laudatio auf Inge Hanne­mann zu halten, eine ehemalige Arbeitsvermittlerin und Hartz-IV-Kritikerin, die mit dem Marburger Leuchtfeuer ausgezeichnet wurde.

Die Marburger Interviews sind in "Schamland" eingegangen, so der Titel des Buches, das dabei herauskam. Das war nämlich das vorherrschende Gefühl, das die Tafelbesucher den Einrichtungen entgegenbrachten. "Wie beschämend es ist, zu einer Tafel zu gehen, war mir vorher nicht klar", sagt Selke. Und so erzählt er die Geschichten von Menschen, die erst mehrfach an der Lebens­mittel­aus­gabe­stelle vorbeiradeln, bis sie sich endlich hineintrauen. Er erzählt von der Dialysepatientin, die selbst ihrer Großmutter nicht vom wöchentlichen Gang zur Tafel berichtet, obwohl sie sonst fast alles mit ihr bespricht. Er berichtet von dem einst wohlhabenden Ehepaar, das seine Bücher nun zum zweiten Mal liest. Und von der alten Dame, die ihre Brötchen in Scheiben schneidet, um mehr davon zu haben. "Die Tafeln sind ein Symbol dafür, fast ganz unten zu sein. Deswegen tut es auch so weh, zur Tafel zu gehen. Das ist ein Stigma", sagt Selke.

Der Professor, der an der Hochschule Furtwangen lehrt, bezeichnet sich als öffentlicher Soziologe. Das bedeutet, dass er sich in politische und soziale Debatten einmischt. Und das durchaus nicht neutral, sondern auch zornig: "Wie kann es sein, dass im reichen Deutschland Tafeln nötig sind?", fragte er, als er dieser neuen Form der Armenspeisung vor Jahren erstmals begegnete. Er selbst hat längere Zeit in Sao Paulo gelebt, wo Armut eine ganz andere Dimension hat. Seinen brasilianischen Freunden konnte er das deutsche Phänomen nicht erklären.

Noch als wissenschaftlicher Mitarbeiter hospitierte er bei der Karlsruher Tafel, wo er gemeinsam mit Ehrenamtlichen Lebensmittel einsammelte und an der Ausgabestelle assistierte. Aus den Beobachtungen vor Ort wurde im Laufe der Jahre eine grundsätzliche Kritik an dieser Form der Wohltätigkeit. Zunächst fiel ihm auf, dass vor allem die ehrenamtlichen Helfer im Mittelpunkt stehen, während die Armen im Hintergrund bleiben. Auch Politiker und Unternehmer instrumentalisierten die Tafeln. So sei es fragwürdig, wenn Minister die Schirm­herr­schaft für Tafeln übernehmen statt für nachhaltige Armuts­be­kämpfung zu sorgen. "Da verwischen die Grenzen", kritisiert Selke. Lebensmittelkonzerne schmückten sich mit ihren Spenden an die Tafeln, während sie zugleich Müll­ent­sorgungs­kosten sparten und miserable Arbeits­bedingungen böten.

Freilich gehe auch nur ein kleiner Teil der Betroffenen zu einer der mehr als 1000 Tafeln bundesweit – sei es, weil sie genügend sozialen Rückhalt haben, Tauschsysteme nutzen oder ihnen die psychologischen Kosten zu hoch sind. Für manche ist die nächste Tafel aber auch einfach zu weit weg. Die Ausgabe­stellen entstehen nämlich nicht vor allem da, wo die meisten Armen leben, sondern da, wo es viele Freiwillige und die passende Infrastruktur gibt. "In den reichsten Orten gibt es die Tafeln", sagt Selke. Das gelte auch für Marburg.

Zum 20-jährigen Jubiläum der Tafeln gründete er ein Aktionsbündnis, das eine kritische Debatte über die Folgen der Tafeln anstieß. Unter dem Titel "Armut bekämpfen statt Armut lindern" fordert der Zusammenschluss eine bedarfs­ge­rechte Mindestsicherung. Selke zieht eine Parallele zur Entwicklungspolitik: Dort habe man gelernt, dass es nachhaltiger sei, Brunnen zu bauen als Lebens­mittel­pakete zu verteilen.

Unter den Organisatoren der Tafeln hat er sich mit seinen Äußerungen viele Feinde gemacht. Stefan Selke trat mit seinem Thema im Radio, bei Anne Will und bei ungezählten Diskussionen auf. Er machte aber auch vor Punker-Zeit­schriften nicht Halt, ging zu Lesungen, zum Science Slam und suchte nach neuen Formen der Darstellung. In seinem Blog "Stabile Seitenlage" äußert er sich regelmäßig zum gesellschaftlichen Wandel. Für das nächste Jahr ist ein Kabarett geplant.

Aktuell experimentiert er mit einer Methode, die er als Storytelling bezeichnet. Dabei möchte er Themen am Beispiel konkreter Geschichten er­zäh­len. So hat er als Gast­dozent in Salzburg den "Geldverteiler vom Mirabellplatz" kennengelernt. Dabei handelt es sich um einen ehemaligen Pastoralassistenten, der in den vergangenen drei Jahren 100 000 Euro an 2000 Menschen verteilt hat. Dazu sitzt er jede Woche in einem Sozialcontainer vor dem Schloss, wo die Leute zu ihm kommen, um zu spenden oder um ihm ihre Armuts-Geschichte zu erzählen. Wer wie viel Geld bekommt, entscheidet er dann anhand dieses Berichts.

Stefan Selke will diesen Fall nur erzählen, nicht bewerten. Aber er räumt ein: "Der Mann hat meine Sympathie." Ein ganzes Hilfssystem dürfe man daraus aber nicht machen.

Gesa Coordes

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