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Thema der Woche | 17. September 2015

Todesurteile vom "kleinen Volksgerichtshof"

Marburger Wissenschaftler forschen über NS-Justiz in Hessen (Bild: Ehemaliges Landgerichtsgebäude) – Foto: Coordes

Eine Rente erhielt die Witwe des politischen Häftlings Heinrich Wilhelm Schäfer bis 1958 nicht. Dagegen machte der Richter Werner Massengeil, der an Schäfers Todesurteil im April l944 beteiligt war, auch nach der NS-Zeit noch Karriere: Bis 1961 war er Direktor des Marburger Amtsgerichts. Hauptgrund für das fort­gesetzte Unrecht: Schäfer wohnte in der Barackensiedlung des früheren sozialen Brennpunkts am Krekel und war in seinem Leben mehrfach wegen Delikten wie Diebstahl mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Die Nazis erklärten ihn deshalb zum "Berufsverbrecher", aus dem gleichen Grund verweigerte das Regierungspräsidium später eine Entschädigung. Enthauptet wurde Sozial­demokrat Schäfer 1944 jedoch wegen "Hochverrats und Wehr­kraft­zer­setzung." Er hatte mehrfach gesagt, dass das deutsche Volk den Krieg nicht gewinnen werde. Seit 2006 erinnert ein Stolperstein auf dem Boden des heutigen Bauhofs an den Verfolgten.

Die ungesühnten Verbrechen der NS-Justiz sind ein Schwerpunkt des Forschungs­bandes, der unter Federführung von Marburger Wissenschaftlern gerade veröffentlicht wurde. "NS-Justiz in Hessen. Verfolgung, Kontinuitäten, Erbe", lautet der Titel des Buches. Es bildet den Abschluss des Forschungs­projektes zum Thema, aus dem auch eine Wanderausstellung hervorgegangen ist.

"Bereits unmittelbar nach der Machtübernahme lief die politische NS-Straf­justiz in Hessen auf Hoch­touren", berichtet Wolfgang Form, der Geschäfts­führer des Internationalen Forschungs- und Dokumentationszentrums Kriegs­ver­brecher­prozesse in Marburg. Bis 1945 wurden rund 3850 Männer und Frauen in Hessen wegen Hoch- und Landesverrats sowie Wehrkraftzersetzung verurteilt, 84 von ihnen zum Tode. Die meisten Angeklagten stammten aus dem Rhein-Main-Gebiet, aber auch in Marburg wurden vor allem Kommunisten und Sozialdemokraten politisch verfolgt. Zu ihnen zählt etwa Cilly Schäfer, die während der Weimarer Republik Landtagsabgeordnete der KPD war. Nach der Machtübernahme wurde sie von einem Sondergericht in Darmstadt zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Anschließend versuchte sie in Marburg, die illegale Arbeit der verbotenen KPD zu organisieren. 1944 wurde sie erneut verhaftet und zunächst in das Konzentrationslager Ravensbrück, dann in das KZ Oranien­burg deportiert. Sie überlebte die Todesmärsche der letzten Kriegstage und zog 1951 in den Marburger Stadtrat ein.

Stolperstein für Heinrich Wilhelm Schäfer – Foto: Coordes

Ab Januar 1944 wurde der politische Senat des Oberlandesgerichts für ein knappes Jahr nach Marburg ausgelagert, weil das Gerichtsgebäude in Kassel bei einem Bombenangriff in Flammen aufging. "Das war praktisch der kleine Volksgerichtshof", sagt Form. Drei Richter gehörten zur Stammbesetzung – Eduard Keßler, Jacob Henseling und Werner Massengeil. Sie tagten insgesamt 161 Mal in der Neuen Kanzlei unterhalb des Schlosses, in dem sich heute die Religionskundliche Sammlung befindet.

Angeklagt wurden rund 200 Männer und Frauen. Die Richter fällten fünf Todesurteile – darunter das gegen Heinrich Wilhelm Schäfer. Andere wurden hingerichtet, weil sie Wehrmachtsberichte als "Schwindel" bezeichnet, abfällige Bemerkungen über die militärische Lage Deutschlands gemacht und Nach­richten von ausländischen Rundfunksendern verbreitet hatten. Die Marburger Witwe Amalie Steimann entging nur mit dem Hinweis auf ihre Wechseljahre und eine familiäre Neigung zu impulsiven Stimmungsäußerungen einem Todesurteil. Über Hitler hatte sie zu ihrer Untermieterin gesagt: "Lieber einen Kaiser von Gottes Gnaden als einen Mörder aus Berchtesgaden". Und zur Judenfrage meinte sie: "Man muss sich bald schämen, eine Deutsche zu sein, weil wir die Juden so behandelt haben." Sie überlebte die Schutzhaft im KZ Ravensbrück und die eigentlich auf sechs Jahre verhängte Zuchthausstrafe und kehrte nach 1945 in die Universitätsstadt zurück.

Die Marburger Richter verhängten bis Dezember 1944 neun Jugendstrafen. 58 Männer und Frauen wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt, 95 zum härteren Zuchthaus. Die Zuchthäusler wurden mitunter auch in so genannten Bewäh­rungs­einheiten an besonders gefährlichen Frontabschnitten während des Krieges eingesetzt. So kam der Frankfurter Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth 1943 mit dem Bewährungs­bataillon 999 nach Griechenland. Der spätere Marburger Professor desertierte und schloss sich den griechischen Partisanen an.

"Viele Richter haben nach dem Krieg weiter in der Justiz gearbeitet", berichtet Wolfgang Form. So waren etwa 60 Prozent der hessischen Richter bereits während der NS-Zeit im Dienst. Hessen habe aber immerhin den Versuch gemacht, mit politisch Verfolgten wie Fritz Bauer unbelastete Juristen an die Spitze der Generalstaatsanwaltschaft zu setzen, so Form.

Buch: "NS-Justiz in Hessen"
Wolfgang Form, Theo Schiller, Lothar Seitz (Hg.): NS-Justiz in Hessen. Verfolgung, Kontinuitäten, Erbe, 720 Seiten, ISBN 978-3-942225-28-1, 19,90 Euro
"Rundfunkverbrechen" des Gießener Freitagskränzchens
Ein prominentes Beispiel für die Verfolgung ziviler Gruppen ist das so genannte "Gießener Freitagskränzchen". In dieser Runde trafen sich seit Frühjahr 1941 Renate Roese, Alfred Kaufmann, Heinrich und Elisabeth Will, Emilie Wilhelmine Maria Schmidt, Stefanie Hawryskow und Hildegard Anna Mathilde Falckenberg, um ausländische Rundfunkberichte zu hören. Eine Gestapo-Informantin verriet das Freitagskränzchen. Alle sieben Beteiligten wurden verhaftet und vom Volks­gerichtshof wegen Vorbereitung zum Hochverrat und Verstoß gegen die Rundfunkordnung angeklagt. Alfred Kaufmann und Heinrich Will wurden zum Tode verurteilt. Allerdings hatte eine Petition Kaufmanns Erfolg. Er wurde zu acht Jahren Zuchthaus begnadigt. Dagegen wurde der Kunstmaler Heinrich Will trotz einer Unterschriftensammlung in seiner Heimatgemeinde und zahlreicher Bittschriften am 19. Februar 1943 im Strafgefängnis Frankfurt-Preungesheim hingerichtet. Seine Ehefrau Elisabeth, eine Jüdin, wurde vom Volksgerichtshof zu sechs Jahren Zuchtshaus verurteilt. Sie kam zunächst ins Frauenzuchthaus Ziegenhain und wurde am 7. Dezember 1942 ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert, wo sie ums Leben kam.
Die damalige Medizinstudentin und spätere Landärztin Renate Roese (verheiratete Fulle) wurde wegen "Rundfunkverbrechens" zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Ihre Rehabilitierung erlebte die 1982 Verstorbene nicht mehr. Ihr Urteil wurde erst am 4. Juli 2001 auf Betreiben ihrer Schwester aufgehoben.
gec

Gesa Coordes

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