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Thema der Woche | 2. Oktober 2014

"Die Überwachung ist schlagkräftiger geworden"

Lebens­mittel­chemiker Prof. Gerd Hamscher über Schadstoffe im Essen und mikrobiologische Risiken – Foto: Pauline Hamscher

EXPRESS: In den vergangenen Jahren gab es zahlreiche Lebens­mittel­skandale. Wie sicher können Verbraucher heute sein, dass ihre Lebens­mittel sicher und nicht mit Schadstoffen belastet sind?

Gerd Hamscher: Die Lebensmittelsicherheit in Deutschland und der übrigen Europäischen Union ist auf einem sehr hohen Niveau. Wir blicken aber auf einige Krisen zurück, die gezeigt haben, dass trotz aller Kontrollen und Sicherheitsvorkehrungen auch den Lebensmittelproduzenten Fehler unterlaufen können – oder, dass auch mit krimineller Energie bewusst gegen Gesetze verstoßen worden ist.
Um Lebensmittelsicherheit zu gewährleisten, ist deshalb eine umfassende Kontrolle und Überwachung notwendig. Die Lebensmittelüberwachung erzeugt hierdurch auch den notwendigen Druck auf die Hersteller, die geltenden Gesetze einzuhalten.

EXPRESS: Hat die Lebensmittelüberwachung zugenommen, ist sie besser geworden?

Hamscher: Die Überwachung ist schlagkräftiger geworden, weil heute ein ganz anderes Untersuchungsspektrum möglich ist. Wirhatten kürzlich in Gießen den Lebensmittel­chemikertag, wo jährlich die neuesten Erkenntnisse zum Beispiel über Analyseverfahren intensiv diskutiert werden. Hier muss man ganz klar feststellen: Es ist heute durch modernste Techniken möglich, so kleine Konzentrationen von Schad- oder sonstigen Stoffen nachzuweisen, wie wir es vor zehn Jahren noch gar nicht vermutet hätten.
Das Problem bei dieser enormen Empfindlichkeit der modernen Messmethoden ist aber auch, genau zu wissen, ab welcher Menge in den Lebensmitteln gefundene Rückstände für den Verbraucher eine Gefahr sind.
Das ist eine der wichtigen Aufgaben der Lebens­mittel­chemie oder auch der Lebensmitteltoxikologie: Grenzwerte festzulegen. Und auch zu sagen, ja, es liegen Rückstände vor- aber in der nachgewiesenen Konzentration stellen sie keine Gefahr für den Verbraucher dar.
Wichtig zu wissen ist: Das alleinige Überschreiten eines Grenzwertes stellt noch keine direkte Gesundheitsgefährdung für den Verbraucher dar, weil auch Grenzwerte sogenannte toxikologische Sicherheitsspannen haben. Das bedeutet, dass der Grenzwert um einen Faktor 10 bis 100 überschritten sein muss, bis für den Verbraucher ein gesundheitliches Risiko vorliegt.
Nichtsdestotrotz sind Lebensmittel mit überschrittenen Grenzwerten nicht sicher und müssen aus dem Verkehr gezogen werden.

Prof. Gerd Hamscher

EXPRESS: Es gab zahlreiche Gammelfleischskandale, künstlichen "Schum­mel­käse" oder 2011 mit dem Darmkeim EHEC verseuchte Lebens­mittel. Was waren die größten Gefahren für die Verbraucher in den letzten Jahren?

Hamscher: Hier müssen wir differenzieren: Es gab stoffliche Risiken, also erhöhte Belastungen mit Dioxinen, Pestiziden oder Tierarzneimitteln in Lebensmitteln. Auf dieser Ebene gab es in den vergangenen Jahren nur in wenigen Ausnahmefällen gesundheitliche Risiken für die Verbraucher durch den Verzehr von belasteten Lebensmitteln.
Anders sieht es aus bei den mikrobiologischen Risiken: Hier ist als erstes die EHEC-Epidemie zu nennen. Dieses Darmbakterium kann lebensgefährliche Infekte verursachen. 2011 kam es durch EHEC zu über 50 Todesfällen, viele Hundert Erkrankte trugen schwere Nierenschäden davon. Das war mit Abstand der gravierendste Fall durch kontaminierte Lebensmittel in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten.
Dabei ist mir sehr wichtig auf Folgendes hinzuweisen: Gerade mikrobiologische Risiken sind nicht auf den Lebensmittelhandel beschränkt. Wenn der Verbraucher seine Lebensmittel nicht sachgerecht lagert, können sich ggf. gefährliche Mikroorganismen rasch vermehren. Man kann auch selbst seine Lebensmittel zum Beispiel durch mangelhaftes Händewaschen mit Fäkalkeimen kontaminieren. Insofern kann die heimische Küche durch eigene Unachtsamkeit oder Unwissen zum Gefahrenherd werden.

EXPRESS: Welche Gefahr ist größer? Die Gefahr, seine Gesundheit durch Pestizide oder andere Schadstoffe in Lebensmitteln zu schädigen? Oder die Gefahr durch den unachtsamen Umgang mit Lebensmitteln am eigenen Herd?

Hamscher: Tendenziell lauern die größeren Gefahren in der heimischen Küche, wobei man natürlich nicht bei jedem Unwohlsein diese Ursache in Erwägung ziehen sollte. Wir stellen aber leider fest, dass heute das allgemeine Wissen um Hygiene in der Küche rückläufig ist. Nicht zuletzt deshalb, weil immer weniger Menschen regelmäßig kochen und ihr Essen selbst zubereiten. Auch wenn die zahlreichen Kochshows im Fernsehen vielleicht ein anderes Bild vermitteln. Und dieses mangelnde Wissen um die Risiken beim Umgang mit Lebensmitteln in der Küche macht uns Sorgen.

EXPRESS: Was wissen Verbraucher denn überhaupt über ihre Lebensmittel? Wie gut verstehen sie die Beschreibungen und Zutatenlisten auf den Verpackungen im Supermarkt?

Hamscher: Klar, wenn man eine Zutatenliste auf einer Verpackung verstehen will, muss man sich intensiv damit beschäftigen. Aber: Wer sich zum Beispiel ein neues Auto kaufen will – oder auch ein Smartphone – informiert sich in der Regel umfassend, schaut sich die Spezifikationen genau an.
So wie man sich bei großen Konsumgütern vor dem Kauf informiert, so sollte man sich meines Erachtens auch ein Grundwissen über Ernährung und die Zusammensetzung von Lebensmitteln aneignen. Welche Lebensmittel sind besonders kalorienreich, welche Lebensmittel sind naturbelassen? Hier haben wir sicherlich großen Nachholbedarf.
Wenn der Verbraucher etwa ein Lebensmittel ohne Konservierungs- oderFarbstoffe will, dann muss er sich die Mühe machen, die Zutatenliste zu studieren und gegebenenfalls auch wissen, welche der sogenannten E-Nummern auf der Verpackung für die jeweiligen Zusatzstoffe stehen.

EXPRESS: Auch Zusatzstoffe werden von Verbrauchern per se oft sehr kritisch gesehen ...

Hamscher: Es wurden in der Vergangenheit einige Zusatzstoffe mit gesundheitlich bedenklichen Wirkungen identifiziert, vor allem aus dem Bereich der künstlichen Farbstoffe. Einige sind zwischenzeitlich verboten, andere müssen mit besonderen Hinweisen gekennzeichnet werden. Somit wird gewährleistet, dass sich der Verbraucher nicht ungewollt ein gefärbtes Lebensmittel kauft. Aber auch hier ist meines Erachtens der mündige Verbraucher gefragt, der sich umfassend über seine Lebensmittel informiert.
Generell ist aber zu den Zusatzstoffen zu sagen, dass sie toxikologisch umfassend geprüft sind und in den eingesetzten Mengen gesundheitlich unbedenklich sind, auch wenn der Verbraucher sie lebenslang zu sich nimmt. Ein wichtiger, offiziell zugelassener Zusatzstoff ist zum Beispiel Ascorbinsäure (E 300), bekannter als Vitamin C. Keiner käme auf den Gedanken, dass dieses natürliche Antioxidationsmittel bedenklich für die menschliche Gesundheit ist.

EXPRESS: Wenn Zusatzstoffe ungefährlich und Schadstoffe in der Regel vernachlässigbar sind, – woher kommen dann die häufigsten ernährungsbezogenen Krankheiten?

Hamscher: Auch diese können wir nicht direkt auf Rückstände in Lebensmitteln, Zusatzstoffe oder Schadstoffe zurückführen. Bewegungsmangel verbunden mit einer einseitigen Ernährung gehört oft zu den Hauptursachen für viele Herz- und Kreislauferkrankungen: das heißt, wenn man zu viel, zu fett oder zu süß isst.

Zur Person
Gerd Hamscher ist seit 2010 Professor für Lebens­mittel­chemie und Lebens­mittel­bio­technologie an der Justus-Liebig-Universität. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört die Analytik von Tierarzneimitteln und toxikologisch relevanten Substanzen in Lebensmitteln sowie der Umwelt.
Er leitet u.a. die Arbeitsgruppe Tierarzneimittelrückstände der Gesellschaft Deutscher Chemiker, die sichv.a. mit der Bewertung, Weiterentwicklung und Validierung von Analysenmethoden zum Nachweis pharmakologisch wirksamer Stoffe in Tieren, tierischen Produkten und Lebensmitteln befasst.
43. Lebensmittelchemikertag
Im Fokus des gerade zu Ende gegangenen 43. Deutschen Lebens­mittel­chemiker­tages in Gießen standen Herkunft und Echtheit von sowie Rückstände in Lebensmitteln und die Biotechnologie. Lebensmittelanalytikerinnen und -analytiker prüfen mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden die Zusammensetzung und die Deklarationen von Lebensmitteln – eine wahre Detektivarbeit. Ihr Ziel ist, Verfälschungen aufzudecken, durch die Verbraucherinnen und Verbraucher gesundheitlichen Risiken oder Täuschungen ausgesetzt sind.
kro

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