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Express Online: Thema der Woche
Express Online: Thema der Woche | 11. November 2004

Von Mao bis Harry Potter

Eine der ältesten kollektiv betriebenen Buchhandlungen in Deutschland wird 35 Jahre alt: Marburgs "Roter Stern". Da gratuliert auch Roger Willemsen

Vor zehn Jahren fragte die FAZ in einer groß angelegten Feuilleton-Debatte nach dem Zustand der politischen Linken in Deutschland. Titel der Serie: "What's Left?", was sich nicht nur mit "Was ist links?", sondern auch mit "Was ist übrig(geblieben)?" übersetzen lässt. Diese Frage hat für Ralf Gehlen, einen der drei Geschäftsführer der Marburger Buchhandlung "Roter Stern", nichts an Aktualität verloren. Auf die Frage, was am "Roten Stern" noch links ist, antwortet er: "Als Wirtschaftsbetrieb, der sich am Markt behaupten muss, ähneln wir natürlich in weiten Strecken anderen Buchhandlungen. Dennoch finden sich bei uns mehr als anderswo noch Titel, die sich einer gewissen Rebellion verpflichtet fühlen und quer zum Mainstream stehen." Im Gegensatz zu früher steht revolutionäres Gedankengut aber nicht mehr im Mittelpunkt des Sortiments, sondern stellt lediglich einen Randbereich dar.

Dementsprechend ist auch die Zusammenarbeit mit Kleinverlagen weitgehend der Kooperation mit den Großen der Branche wie Rowohlt oder Suhrkamp gewichen. Kritikern, die angesichts solcher Kungelei mit dem "Großkapital" die Nase rümpfen, hält Gehlen entgegen, dass bedeutende Werke linker Autorinnen und Autoren bei großen Medienkonzernen publiziert werden.

Ein weiterer Unterschied zu anderen Buchhandlungen besteht in der nach wie vor kollektiv geführten Betriebsstruktur und dem gemeinsamen Fällen wichtiger Entscheidungen. Auch gibt es nach wie vor keine Einkommensunterschiede zwischen den Angestellten.

Dass weitsichtige Leute in den siebziger Jahren angefangen haben, betriebswirtschaftlich vorausschauendes Handeln nicht als Sünde des Klassenfeindes anzusehen, ist auf jeden Fall einer der Gründe für unser Überleben", so Gehlen. Inzwischen ist der Zwang, als Betrieb wirtschaftlich zu handeln, bei allen Mitarbeitern akzeptiert und unstrittig. Ein weiter Weg also von der Gründung als strikt politische Kampfbuchhandlung maoistischer Prägung im Jahr 1969 bis heute. Es klingt wie ein Klischee, aber damals bestand die Hauptaktivität tatsächlich im Verkauf von Mao-Bibeln.

Nach dem Umzug vom Marburger Hirschberg in die Geschäftsräume Am Grün wurde das Sortiment deutlich erweitert. Anti-AKW- und Frauenbewegung, Nord-Süd-Konflikt und Neue Soziale Bewegungen: Das Angebot spiegelte die Entwicklung der bundesrepublikanischen Linken in den siebziger und achtziger Jahren wider.

1986 kam das moderne Antiquariat dazu. Und seit 1998 können sich Jungleser in der Kinder- und Jugendbuchhandlung "Lesezeichen" Schmökern wie dem neuesten Harry-Potter-Band hingeben.

Eine enge Beziehung pflegt der "Rote Stern" zum Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Philosophie der Philipps-Uni. Nicht nur, weil viele Lehrende und Angestellte zu den Stammkunden zählen. Zahlreiche Mitarbeiter der Buchhandlung studierten einst Politikwissenschaft oder Soziologie und haben mittlerweile im deutschen Verlagswesen Karriere gemacht.

Heute zählt der "Rote Stern" zu den traditionsreichsten Buchhandlungen Marburgs und hat sich weit über die Universitätsstadt hinaus einen Namen gemacht. Dies nicht zuletzt durch Auftritte prominenter Autorinnen und Autoren wie Eric Hobsbawm, Louis Begley, Inge und Walter Jens, Patrick Roth, Peter Merseburger oder Judith Hermann.

Die nächste Lesung findet am Freitag, den 12.11. in der Waggonhalle statt. Zu Gast ist Roger Willemsen, der sich 35 Jahren Literaturgeschichte widmet. In diesem Sinne: Auf die nächsten 35 Jahre!

Savo Ivanic


Express Online: Thema der Woche | 11. November 2004

Gleich und Gleich ...

Zu unerfahren
Nach Auffassung der Jungen Union sind die 14- und 15-jährigen Schüler zu unerfahren, um über sensible Themen wie Verhütung, die Folgen einer Abtreibung oder den Schutz vor einer HIV-Infektion zu referieren. Der Aufklärungsunterricht solle deshalb wie bisher von Lehrern mit entsprechenden fachlichen und pädagogischen Kenntnissen erteilt werden.
Von 1996 bis 2003 hätten die Schwangerschaftsabbrüche bei Minderjährigen um 2,4 Prozent zugenommen. Auch die Zahl der HIV-Neuinfektionen sei im vergangenen Jahr erstmals seit 1997 wieder gestiegen, sagte Katharina Stock vom JU-Landesvorstand. "In Hinblick auf diese bedenklichen Entwicklungen ist es unabdingbar, dass Jugendliche von kompetenten Fachkräften aufgeklärt werden, um einen verantwortungsvollen Umgang mit Sexualität zu lernen."
Die Gießener Pro Familia weist die Vorwürfe zurück: "Die Junge Union unterstellt, dass die Jugendlichen anstelle der Lehrer den Aufklärungsunterricht machen", sagte Geschäftsführerin Nora Eisenbarth. "Wir sehen das Projekt aber ausdrücklich als einen zusätzlichen Baustein zum bestehenden Unterricht." Pro Familia habe das Peer-Education-Projekt im Oktober gestartet, "weil die Aufklärung durch die Fachkräfte offenbar nicht ausreicht".
Georg Kronenberg

Über Sexualität sprechen Jugendliche am liebsten mit Gleichaltrigen. Deshalb hat die Gießener Pro Familia ein Pilotprojekt gestartet, bei dem die Jugendlichen ihre Mitschüler im Schulunterricht über Freundschaft, Liebe und Lust aufklären sollen.

Ein bisschen gezögert habe sie anfangs schon, berichtet Steffi Plachter. "Ich habe mir genau überlegt ob ich bei dem Projekt mitmache. Es gab schon eine kleine Hemmschwelle." Aber schließlich sei es eine spannende Herausforderung, Gleichaltrige zu unterrichten. Und die meisten Schüler gingen mit Fragen zum Thema Liebe und Lust sowieso nicht zu den Lehrern, sagt Lukas Kundt.

Die beiden 14- und 15-Jährigen sind zwei von 14 Freiwilligen an der Wetzlarer Kestnerschule, die bei dem Pilotprojekt "Freundschaft, Liebe, Lust und so ..." der Gießener Pro Familia Beratungsstelle mitmachen.

In mehreren Unterrichtsstunden wollen die Pro Familia-Sexualpädagogen Erika König und Manfred Humpert die Schüler in den Themen Sexualität, Verhütung, Gefühle, Freundschaft und Rollenverhalten fit machen. Dazu gibt's für die angehenden Multiplikatoren eine Einführung in die pädagogische Arbeit. Ab Frühjahr sollen Steffi, Lukas und co dann in Zweiergruppen ihr Wissen in jeweils drei Unterrichtsstunden an Klassen der Jahrgangsstufen sieben bis neun weitergeben – in nach Geschlechtern getrennten Gruppen und ohne die Aufsicht von Erwachsenen.

Wir stehen während der Zeit außerhalb des Klassenraums natürlich für Fragen zur Verfügung", sagt Pädagogin Erika König. Bei der eigentlichen Gesprächen über Fragen der Verhütung oder Geschlechterrollen sollten die Schüler aber unter sich bleiben. Denn, "nach einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung sprechen Jugendliche über Sexualität am liebsten mit Gleichaltrigen", berichtet König. Vergleichbare Peer-Education-Projekte (Ausbildung durch Gleiche) sind nach ihren Angaben bereits im Saarland und in Rheinland-Pfalz erfolgreich durchgeführt worden. Durch die ähnlichen gesellschaftlichen Kennzeichen und Sprachmuster seien Jugendliche für Gleichaltrige zudem glaubwürdiger als Erwachsene. Und auch das Finden einer gemeinsamen, unverkrampften Sprache sei leichter. Schließlich hätten Untersuchungen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung gezeigt, dass Jugendliche, die offen über Sexualität reden können sich in der Regel verantwortungs- und gesundheitsbewusster verhalten.

Der Anklang bei den Jugendlichen ist bisher groß, sie sind sehr zahlreich zu den Infoveranstaltungen erschienen", berichtet König. "Unter den Mädchen musste ausgelost werden, wer als Multiplikator mitmachen kann", ergänzt Lehrerin Eva Bachmann von der Kestnerschule. Auch sie begrüßt das Projekt als Ergänzung zum Sexualkundeunterricht. "Ich finde es richtig, dass wir nicht dabei sind. Es ist doch eindeutig, dass Schüler mit heiklen Fragen nicht als erstes zur Autoritätsperson Lehrer kommen."

Das Peer-Education-Projekte soll durch eine wissenschaftliche Studie begleitet werden. Außer der Kestnerschule nehmen die Ost-Schule und die Liebig-Schule in Gießen, sowie die Gesamtschule in Hungen daran teil.

Georg Kronenberg



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